3.1.08

Jetzt nicht

Ich schiebe dauernd auf. Vorgestern Abend war mir DVDs-schauen mit der schönen Frau wichtiger als Kofferpacken. Jetzt reise ich eben ohne Handschuhe durch das winterliche Land. Aber das kennt jeder, diese Form des Aufschiebens. Und mittlerweile weiß ich: Natürlich haben auch die anderen während der Zeit in der Bibliothek nicht dauernd an ihrer Examensarbeit geschrieben, sondern ihre StudiVZ-Kontakte gepflegt. Dafür gibt es großzügige Abgabefristen für Examensarbeiten. Prokrastination ist wohlwollend in den Zeitrahmen der Studienabschlussphase miteingerechnet worden. Ich bringe lieber das Altpapier weg oder verabrede mich zum Brunchen mit einem Freund, der ganz echt nur heute in der Stadt ist, als dass ich freudig Staub wische, wenn dies auf dem Putzplan steht.So prokrastiniert jeder. Auch sinnloses Solitairespielen, bevor es dann eben doch ein wenig Job zu erledigen gibt, ist kein Alleinstellungsmerkmal.
Wie andere habe auch ich dank des Lasters des Aufschiebens nebenher wichtige Fähigkeiten für das 21. Jahrhundert erworben. Ich habe eine Homepage im Internet fast alleine aufgesetzt, ich springe mit einer Digicam durch die Welt und veröffentliche die Ergebnisse dieser Springerei bei einer Fotocommunity. Dank einiger der Prokrastination geschuldeten Autodidaktikkurse kann ich am Computer sogar ein paar nette Sachen mit den Farbwerten meiner Fotographien machen und den Zauberstab über das digitale Bild huschen lassen. Aufgeschobene Aufgaben haben mich auch dazu gebracht, meinen Musikgeschmack zu scrobbeln. Und manchmal, vor allem, wenn ich ganz dringend irgendein Stück Weltliteratur in meinen Kopf bekommen sollte, schicke ich als zwitscherndes Vögelchen auch Kurznachrichten ins Netz. Und wenn ich nicht im Herbst 2006 dringend meinen letzten Schein auf dem Weg durchs Studium hätte erwerben sollen, ich bloggte vielleicht bis heute nicht. Ohne Prokrastination wäre ich nicht Björn Grau, sondern weiterhin der analoge Mensch, der ich hinter diesem virtuellen Dasein sein soll.
Mit all dem komme ich klar. Manches bereitet mir Freude. Das meiste kenne ich von anderen. Was mich aber richtig nervt, ist die versteckte Prokrastination. Aufschieben, wo es eigentlich nichts aufzuschieben gibt.
Ich bin mit dem Glück geschlagen, nie lernen gelernt zu haben und dennoch einigermaßen erfolgreich durchs Leben zu kommen. Ich hasse Anstrengung und vermeide sie und meist lässt sie sich vermeiden. Die erste Prokrastination, an die ich mich erinnere, übte ich vor dem Mathematik-Abitur aus. Anstatt Gleichungen aufzulösen, schaute ich die Schlümpfe. Die waren witziger. Das Ergebnis war die schwächste Note in Mathe, die ich je bekommen hatte, aber es handelte sich immer noch um eine schlechte Zwei und hat am guten Schnitt dennoch nichts geändert. Einige Wochen später beim mündlichen Teil der Reifeprüfung habe ich das erste Mal Prokrastinationspoker gespielt. Auf drei Themen hätte ich mich vorbereiten sollen, auf eines habe ich ein paar Tage Bearbeitungszeit verwandt, zu den anderen hatte ich mir die wichtigsten Texte mit zur Prüfung genommen. Ich war als erster da, obwohl ich als letzter geprüft wurde. Alle Kandidaten, die aus der Prüfung kamen, fragte ich, zu was sie sprechen mussten. Je mehr antworteten, desto klarer, wurde: ich hatte das richtige gelernt. Ähnlich habe ich meine bislang letzte Prüfung vor einigen Tagen bestanden. Ich habe einen bestimmten Ausschnitt des Stoffes gelernt und dann im Prüfungsgespräch gehofft, dass der Prüfer nicht davon abschweift. Es hat geklappt. Die Frage-Antwort-Runde hätte keine Sekunde länger dauern dürfen, mein Wissensvorrat war leer. Prokrastinations-Fullhouse sozusagen.

Ich wäre genial ohne Prokrastination. Nur habe ich Angst davor. Und keinen Bock auf den Stress. Wo andere im Studium behaupteten, sechs Wochen auf eine Prüfung gelernt zu haben, habe ich von zwei Wochen gesprochen. Dass ich davon nur drei Tage wirklich gelernt habe, das ist mir dann aber peinlich gewesen. Klar, bei den anderen waren es auch keine sechs Wochen, denn die gruscheln zwischendurch die alten Kumpels aus Schulzeiten daheim im Bergischen Land. Aber ich kenne dann doch ein paar Menschen, die von Prüfungen richtig gefordert werden. Die mit krasser Arbeitsorganisation, perfektem Mind-Mapping und großen Zettelkästen wirklich wochenlang ein Thema in sich hinein fressen. Und am Ende doch auch nur mit „gut“ bestehen. Solchen Menschen (gefühlt: allen anderen) gegenüber versuche ich, normal zu erscheinen. Gruppenzwang und so.
Also habe ich so getan, als säße ich büffelnd am heimischen Schreibtisch. Ich bin nicht ans Telefon, habe keine Mails beantwortet, nichts ins Netz geschrieben, keine Einkäufe erledigt, immer noch keinen Staub gewischt. Ich habe nichts getan, damit ja nicht auffällt, dass ich nicht das mache, was ich angesagt hatte. Ich habe sogar den Job schleifen lassen, denn ich musste ja lernen. Bis ich dann wirklich nicht mehr wusste, wann ich was erledigen sollte. Und dann war ich ernsthaft überfordert. Dann war der Berg an Aufgaben so groß, dass ich nicht mehr wusste, wie ihn überwinden. Das macht depressiv. Und Depressive gehen keine Etappen, die wollen alles auf einmal oder nichts. Also nichts. Bis es fast zu spät ist.

Bei den Prüfungen war es bisher nie zu spät, Prokrastinationspoker sei dank. Auch die aufgeschobenen Dinge im Job kann ich in den mir verbleibenden Monaten, bis ich dort auf eigenen Wunsch aufhöre, mit etwas Disziplin, etwas Glück und etwas Rhetorik abarbeiten oder zumindest plausibel machen, warum sie nie zu erledigen waren. Diesen Text scheine ich ebenfalls noch fertig zu bekommen, obwohl ich ihn nach Abfassung einer ersten Version zwischenzeitlich aufgeschoben hatte und gestern dachte, ich schaff das nie, also geh ich erstmal schlafen. Nichtstun ist die betrübliche Version der Prokrastination. Aber heute bin ich wach.

Bisher war ich zu clever für Sitzfleisch. Aber zu feige, das zuzugeben. Nur: kann ich das überhaupt zugeben? Wenn alle wissen, dass ich das Verlangte in einem Bruchteil der veranschlagten Zeit zu erledigen wüsste, dann werde ich ja wahrscheinlich nicht offener und kreativer mit der freien Zeit umgehen, sondern bekomme mehr zu tun. Und darauf habe ich keinen Bock. Ich will lediglich die bisher mit Nichtstun getrübte Zeit kreativ aufhellen. Der Weg muss demnach ein anderer sein: Ich mache mit bei den allgemein anerkannten Arbeitszeiten. Ich werde wie alle anderen sagen, ich brauche sechs Wochen für die und die Aufgabe. Dann mache ich mir einen exakten Zeiplan, verteile die drei Tage reale Arbeitszeit gleichflächig, gruppiere großzügig kreative Phasen drum herum und fülle nur noch den Rest mit kleinen Häppchen Nichtstun auf. Das ist dann weniger frustrierend. Aber ist es eigentlich noch Prokrastination, wenn es schon auf der to-do-Liste steht?

(Erste Gedanken hierzu am 18.12.07, erste Textfassung 23.12.07, Ausarbeitung 28.12.07, Durchsicht am 03.01.08. Ob es clever ist, sowas kurz vor der Jobsuche zu veröffentlichen?)

11 Kommentare:

sympatexter hat gesagt…

Meine Diagnose: Akutes Boreout Syndrom.

Und das schon vor dem Job? Auweia.

Anonym hat gesagt…

Der Teil mit dem "eigentlich bin ich clever genug, Aufgaben in kürzester Zeit zu vollster Zufriedenheit zu bearbeiten" gefällt mir. Das Glück der Genialen. Es gibt immer jemand, der langsam genug arbeitet, dass immer ein "aber der doch auch" parat ist.
Interessant nur, dass eigentlich keiner, auch die Langsamen nicht, die ganze Zeit an ihrer Arbeit sitzen. Oooh, wenn das die Vorgesetzten dieser Welt nur wüssten... Aber wissen sie natürlich. Sie sind ja auch nicht anders.

Björn Grau hat gesagt…

@sympatexter: kennst du dich aus? bist du medizinisch bewandert? muss ich angst haben?
hypochondrische grüße vom kranken graubrot.

Unknown hat gesagt…

Awax!
So schlimm ist das doch alles nicht. Boreout , da hat sympatexter recht.
Volkskrankheit Nummer zwei.
Aber tröste dich, denn : you never bore alone!
(alles ist transitief, jawoll!)

Mein persönlicher wellness-coach empfiehlt mir immer wieder ne Schröpfkur...mhm... Let it bleed!
http://de.youtube.com/watch?v=sC8FV19gf1U

Anonym hat gesagt…

Jetzt nehme ich mir seit vorgestern vor, diesen Eintrag zu kommentieren und habe aber meinen charmante Replik schon wieder vergessen.
"... lediglich die bisher mit Nichtstun getrübte Zeit kreativ aufhellen" finde ich sehr sympathisch.

Anonym hat gesagt…

björn, tröste dich, du bist völlig gesund. oder wärst du lieber so ein eifriger schleimer, der wirklich alles in dem moment erledigt, in dem er den auftrag zu etwas bekommt. und dann däumchendrehend darauf wartet, daß ihm jemand mit einer neuen aufgabe den tag vermiest? der nichts weiter zu tun hat als das, was andere ihm sagen? der nicht hier und da etwas von seiner lebenszeit (leben!) abknappst, schwänzt, und sei es auch nur für einige stunden mit einer notlüge, die gar nichts, verstehst du, rein gar nichts auf deinem gewissen zu suchen hat?

beruhige dich, sei glücklich, versuche dir deine freiräume zu bewahren und sie in dem bisher sehr sozialverträglichen (und, öhm, unscheinbaren) maße zu erhalten und laß dir keine schuldgefühle einreden. wenn etwas wirklich wirklich wichtig ist, bist du der letzte, der es nicht zur passenden zeit fertig hat, und das weißt du auch.

Björn Grau hat gesagt…

julie: danke.
nein, ich will so ein schleimer nicht sein. und eigentlich weiß ich auch, was du mir bescheinigst. aber nicht immer (dämliches selbstbewusstsein).
du gehörst zu den ganz wenigen, die dank gemeinsamen büros etwas von meiner art zu arbeiten kennen (und ich von deiner, hihi). insofern freut mich deine ansage besonders. und mir redet auch niemand konkretes was ein. das mach ich schon selbst. selbst wenn ich als chronischer hypochonder panisch auf sympatexters diagnose reagiere, ist das ja erstmal meine macke.

@alle: ansonsten ist das ganze vor allem ein text. einer gar, den ich quasi auf anfrage geschrieben habe. aber was soll's, der text gehört ja euch lesern. und wenn ihr darin eine psychobeichte meinerseits lesen wollt, dann kann ich's nicht mehr verhindern. ;-)

sympatexter hat gesagt…

Meine Erfahrungen mit Prokrastination:

Die schlechte Nachricht: Es ist unheilbar. Befürchte ich.

Die gute Nachricht: Man perfektioniert das Auf-den-letzten-Drücker-Mini-Max-Prinzip bis zu den kosmischen Grenzen der Machbarkeit.

Der einzige wirklich nennenswerte negative Nebeneffekt: Man wird manchmal ein bisschen depressiv bei dem Gedanken an all die tollen Dinge, die man erreichen könnte, wenn man immer in diesem Modus arbeiten würde. Aber ha! Wenn man immer so arbeiten würde, wäre es ja nicht mehr das äußerst effiziente Auf-den-letzten-Drücker-Mini-Max-Prinzip. Und bei diesem Gedanken geht es einem wieder schlagartig besser.

Leider führt Prokrastination irgendwann zum Boreout-Syndrom, das es zu vermeiden gilt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Anonym hat gesagt…

Am Boreout leide ich auch. Allerdings ist meine Strategie, ich mach die Aufgabe gleich, lass sie liegen und gebe 1-2 Tage vor dem geforderten Zeitraum ab. So wirke ich immernoch engagiert, fleißig und motiviert.
Und in der Zwischenzeit fröhne ich dem lieben Nichtstun, dem Kompetenz-Simulieren und dem Beschäftigt-Aussehen.

Björn Grau hat gesagt…

@chica: sorum wird ein schuh draus! danke für den tip! das werd ich versuchen: erst erledigen, dann nichtstun. clever!

Anonym hat gesagt…

Danke Digger!!
Nu bin ich wieder mal ein Wort schlauer!!
Das schöne ist, daß man auf Grund dieser äusserst nervigen (zumindest, für das optische Umfeld und wenn Mann sich selbst dessen bewust ist) Pokratzination zB regelmäßig deinen Buchstaben "lauschen" kann, um das Ganze auch noch mit unglaublich sinnvollen Kommentaren aus einer wundervollen Vergangenheit (zB: Wieviele Personen bekommt ein Fahranfänger mit knapp 6 Wochen Fahrerlaubnis in der Silvesternacht auf dem Weg ins Stammjugendhaus in einen weißen 2er-Golf?? 9!! inklusive 2,03 m großem Fahrer...) zu garnieren....
So, jetzt sollt ich auch wieder weiter Steuern machen und Bewerbungen schreiben.... ;-)
LG vom G.