5.6.08

Tischplatzreservierung im Großraumabteil

Mit dem frühen EISIHIEH-Sprinter bin ich ab morgens um sechs auf dem Weg in den Süden der Republik. Nächster Halt Frankfurt, das Abteil ist voll mit Businesskaspern.
Der Typ mir gegenüber hat auf dem Bahnsteig nicht nur Rückengymnastik geturnt, sondern dabei auch noch jedem Rock penetrant hinterher gestarrt. Jetzt liest er Bücher zu christlicher Personalführung.
Der Mitreisende neben mir besitzt einen MP3-Player, der in lächerlichem Aktionismus und oszillierenden Farben auf dem Display einen grafischen Equalizer simuliert. Er bereitet sich offensichtlich auf einen Vortrag vor, irgendwas mit Finanzen. Dazu markert er ganze Seiten eines Buches über Erbrecht gelb, informiert sich dank Strategiepapier-Ausdrucken über die Situation auf den Finanzmärkten anderer Kontinente und sucht immer wieder ein Zitat heraus aus einem dieser Bücher, die die hochkomplizierten Denkgebäude der großen Philosophen zu wohlklingenden aber sinnlosen Aphorismen kastrieren.
Nachdem von Berlin bis Frankfurt eine nach bratziger Brandenburgerin klingende Fahrgastbeauftragte nicht einmal die konzerneigene Verballhornung einer Fremdsprache sprechen will, nuschelt der neue Oberschaffner beim Verlassen der hässlichen Stadt am Main gar schön in die Sprechanlage: "First-class-passengers will be served by Herrn Schulz."

Im Intercity zwischen Karlsruhe und Nürnberg (müsste es nicht Interprovinz heißen?) spricht der Zugbegleiter gutes Englisch. Dafür ist sein Azubi, der den Waggon beaufsichtigt, in dem ich sitze, ein Angsthase. Er hat mich einsteigen sehen, er stand in der Waggontür, als ich den Zug betrat, aber er traut sich nicht, mich anzusprechen, als ich seine Frage "Hier noch jemand zugestiegen?" ignoriere. Ich reise unkontrolliert. Mein Sitznachbar liest eine Wagner-Biographie. Der Herr gegenüber liest amerikanische Ratgeberliteratur im Original und parliert französisch am Mobiltelefon.

Der Tag, an dem ich die ICE-Strecke Nürnberg-Berlin fahrplanmäßig hinter mich bringe, ist im Plan der Schöpfung wohl nicht vorgesehen. Verplemper ich eben mein letztes Bargeld für international-standardisiertes Fastfood und denke in der fränkischen Hauptstadt (oder war das Kulmbach?) über Lebkuchen, Japaner, Absteiger, Reichsparteitage und so'n Kram nach. Fazit: Dass hier mal eine Handelsmetropole früherer Globalisierungswellen war, ist schier unvorstellbar. Die Stimme, die die immer größer werdende Verspätung vermelden darf, klingt wie diese Dumpfbacke aus dem Spätprogramm eines Glücksspielfernsehsenders, die immer unzulässig wenig Stoff über ihre Euter legt. Franken, die versuchen, Hochdeutsch zu sprechen sind ja noch schlimmer als ebensolche Schwaben. Schnell weg.
Guter Witz.
Als der Zug dann kommt, sind wenigstens zwei pünktlich: Die Bahn-Hanseln, die jetzt die Verspätungsgutscheine für die aussteigenden Fahrgäste erstellen müssen. So viel Service gab's früher auch nicht. Verspätungen werden also zum Börsengang hin perfektioniert.

Es gibt immer noch Menschen, die sich beim Mobiltelefonieren im Zug anhören, wie im vergangenen Jahrtausend: "Ja ich hör Dich! Hörst Du mich? Also ich bin im Zug! Was? Im Zug! Hallo? Also ich hör Dich gut!"
Der Herr, der mir im IC gegenüber saß, sitzt jetzt auf der anderen Gangseite und zeichnet diese comicartigen Bildfolgen, die Filmregisseure immer als Konzept für ihre Einstellungen haben. Wie heißen die noch?
Ich sitze in einer Frauensitzgruppe. Die Dame gegenüber hat unglaublich volle und tolle Lippen und ist auch sonst sehr attraktiv. Als ich mich setzte, knöpfte sie ihr Blouson zu. Sie liest die Bibel.

Wieso sitzen eigentlich nie vier Leute an so einem Tisch im Großraumabteil?

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

storyboard heissen die kritzeleien der regisseure....

macht immer spass, die alltagsschlaglichter bei dir zu lesen......

Björn Grau hat gesagt…

Danke!