12.11.07

Blümchen

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass junge Menschen sich aussuchen, welcher Jugendkultur sie angehören. Diese Entscheidung nimmt ihnen ihr Umfeld ab. Ich war ein Hippie damals Mitte der 1990er. Und das kam so:

Papas Plattenschrank lieferte den musikalischen Einstieg. Dazu brauchte es nicht mal die Woodstook-Platte. Beatles und Hannes Wader reichten aus. Hippiesein hatte Mitte der 1990er auch wenig mit 68 an sich zu tun. Hippie war, wer lange Haare hatte, nicht Metal hörte, Räucherstäbchen anzündete und für den Weltfrieden war. Irgendwie. Hippie war, wer Grunge als gut aber hart einordnete. Also eigentlich war ich ein Weichei.
Aber ich hatte auch allen Grund zu klagen. Tschernobyl war zehn Jahre zuvor schon das Ende der idyllischen Kindheit gewesen, bevor ich überhaupt wusste, was Kindheit ist. Ich war ja nicht Florian Illies. Der Golfkrieg des ersten George Bush ließ den Karneval ausfallen und statt Dosenpfand gab es brennende Asylantenheime. Da musste man(n) doch sensibel drauf reagieren.
Zumindest kam das bei den Hippie-Mädchen an. Und die hatten einen entscheidenden Vorteil. Sie waren selbstbewusst aber nicht arrogant. Sie waren aufgeklärt. Sie waren unverkrampft. Sie waren zwar nicht so geile und willige Geräte wie die Mädels aus dem Sportverein, aber ich spielte weder Fußball noch Basketball auf annehmbaren Niveau. Überhaupt waren die Sporttussis dumm in der Birne. Selbst die bei uns auf dem humanistischen Gymnasium. Für ne lockere und intelligente Frau mit Interesse am Weltfrieden nahm ich damals die brave Sexualität eines Hippiemädchens in Kauf. Ich wusste es nicht besser und hey, braver Sex war besser als gar keiner. Und mal abgesehen von den frühreifen Hauptschülern waren wir Hippies die ersten, die nicht nur davon gesprochen haben.

Weltpolitik, Musik, Frauen. Diese drei Gründe gingen im Hippietum meiner Jugend nur zusammen mit der richtigen Portion Melancholie. Die begründete ich mit dem Psychoterror, den sie daheim während des Scheidungskrieges veranstalteten. Ich komme aus der südwestdeutschen Provinz, da war Scheidung in den 1990ern noch fast was besonderes. Und wir wenigen von dieser Plage Betroffenen fanden uns mit anderen Aussätzigen zusammen und liebten uns und hätten wir damals schon gewusst, dass eigentlich die Smiths zu unserer Traurigkeit besser gepasst hätten als Grunge und College Rock, wir wären wohl vollends depressiv geworden. Du uns aber in den 1980ern sozialisierte Verwandtschaft aus der Großstadt fehlte, verband sich die Melancholie der Hesse-Lektüre mit der Lebenslust der Mittelstandsjugend und der Sehnsucht nach einer guten Welt. Und manchmal waren wir der Perfektion dieser Melange verdammt nahe. In der Theater-AG, in der Schülerband und der Teestube. Auf dem Smashing Pumpkins-Konzert oder im Ferienlager. Oder in den sturmfreien Einfamilienhäusern, die wir beim Feiern nicht zerlegten, wie die prolligen Kollegen von der Realschule. Wir hingen in den Sofas, tranken und philosophierten. Wir redeten unheimlich viel. Oder wir saßen drüben auf den Hügeln und starrten ins letzte Abendsonnenlicht. Oder in die Sterne. Wir sinnierten viel. Und heute? Was hat uns bloß so ruiniert?

(Eigentlich waren wir ziemlich elitäre Bürgerkinderarschlöcher und deshalb ist auch klar, dass uns nix ruiniert hat und wir immer schon waren, was wir wurden, aber das wird einem ja auch erst hinterher klar und da war’s dann schon so schön gewesen, dass es auch nicht mehr wegzubekommen ist, weshalb ich hier in loser Folge das Thema „Blümchen“ wieder aufnehmen und über meine Hippiefreundinnen und -freunde von damals schreiben werde.)

Keine Kommentare: