18.11.06

Die Kinder, sie spielen?

Folgende Geschichte ist Ramón vor zweieinhalb Wochen widerfahren. Ich gebe sie wortgetreu aus seiner Mail vom 5.11.06 wieder, weil sie mich nachdenklich gemacht hat. An dieser Stelle kommt dazu auch keine Einschätzung meinerseits. Allerdings kündige ich an, zum Thema Gewalt in Berlin die nächste Reflektion zu posten.

"Es ward Halloween am letzten Dienstag und ich begab mich auf den Nachhauseweg von der Arbeit. Am S-Bhf. Schöneweide bestieg ich wie immer die Tram, ließ mich nieder und las. Neben zahlreichen anderen Fahrgästen befanden sich im Wagon noch fünf junge Jugendliche, die mit Kürbiskernen um sich spuckten, die mir auch um die Ohren flogen. Auf meine Nachfrage, ob sie die Spuckerei womöglich auf sich beschränken könnten (wenn ich groß bin, werd' ich auch mal Spießer) erntete ich erwartungsgemäß nur dumme Sprüche.
Aber zumindest konnte ich zunächst ohne Kürbiskerne im Gesicht weiter lesen. Der eine Honk wollte sich dann noch neben mich setzen, so dass ich den Platz von meinem Rucksack beräumte, es ward eh nur noch eine Station. Ich wollte also eh aussteigen, aber was dann folgte war wie im schlechten Film.
Wie erwartet kamen noch ein paar dämliche Sprüche. Und als dann oral beförderte Kürbiskerne ihren Weg in meine Richtung bahnten musste auch ich nachfragen wie bescheuert die Typen eigentlich sind. Daraufhin erntete ich einen Tritt, den ich nochmals kommentierte aber da die Tram schon stand und die Tür bereits einige Sekunden offen war, wollte ich dann nun mal aussteigen und die Idioten ihren weiteren Weg gehen lassen.
Beim Aussteigen allerdings, stieß man mich aus der zwei Treppen hohen Tür. Weil das dann doch recht unerwartet kam, fand ich mich die Balance verlierend spontan und verdutzt auf dem Bürgersteig liegend wieder, wo - und jetzt kommt's - ich sogleich zahlreiche gezielte Fußtritte einsteckte!
Die Brille flog weg, die Schuhspitzen in Magengrube und Rippen, ein gezielter Faustschlag, noch ein paar Tritte, einer davon mit Volltreffer ins Gesicht ... Wenn man dummer Weise erstmal auf dem Boden liegt und unvorbereitet zusammengetreten wird, kann man eigentlich nich mehr viel machen als die Arme vors Gesicht nehmen und beten.
Als andere Fahrgäste zu Hilfe eilten, machten sich die Täter dann recht schnell davon. Eine Frau übergab mir meine Brille und meine Jacke. Auf die Nachfrage, wo denn mein Rucksack sei, meinte sie nur: "ich glaub, den haben die mitgenommen ..."

Scheiße! Ja glaubt man denn so was? Mein Handy hatte ich zufällig in der Hosentasche, wollte gleich die Polizei anrufen, dem kam mir aber eine andere Frau zuvor. Und siehe da, es dauerte nur eine Minute, da hielt eine Streife. Der eine Polizist raus, die Lage gecheckt, mich kurz angeschaut, gemeint ob ich fit sei und mit mir wieder rein ins Auto: auf geht's Idioten jagen.
Wir sind dann ein paar Minuten ein Gelände abgefahren, wo wir die Typen vermuteten, aber haben niemanden gefunden. Daraufhin wieder auf die Wilhelminenhofstrasse raus und von außen die Dönerläden gecheckt.
Nix.
So langsam fingen dann bei mir die ersten Schmerzen an und die Gedanken kreisten um diverse Inhalte meines Rucksacks. Mir ging es nur darum einen von diesen Arschlöchern zu kriegen, der Rest würde sich dann ergeben. Nur erstmal einen ... Wir hielten, der Polizist wollte mit mir in einem Hinterhofdurchgang nachschauen, der andere cruiste mit dem Streifenwagen zur Parallelstraße. Siehe da, kaum zündete mein Freund in Grün die Taschenlampe, rannten vor uns zwei Gestalten wie besessen davon, splitteten sich auf und rannten wie vielleicht noch nie zuvor. Wir einigten uns auf einen und nahmen die Verfolgung auf. Knapp zwei Straßen später ließ der Beamte nach und bei mir machte sich wenig später dann auch die Rippe bemerkbar, konnte nich so wie ich wollte, der Arsch entkam.
Plötzlich hielt ein PKW vor mir, die hintere Tür sprang auf und mein Freund in Grün winkte mich herein. Ich konnte das nicht so recht einordnen, sprang aber hinein. Als ich drin saß, wurden die Dinge klarer. Wie im Film hatte der Polizist einen PKW angehalten, drinnen saß ein älteres Ehepaar, dessen weibliche Hälfte ganz hibbelig war während der Mann endlich mal Verbrecher jagen durfte. Ich muss gestehen, bei all dem Hals den ich hatte und mir einiges wehtat, die Situation verursachte irgendwie auch bei mir ein Grinsen. Leider haben wir den Flüchtigen auch so nicht bekommen und sind zurück zum Streifenwagen. Dieser hatte inzwischen vier Jugendliche aufgegabelt und eingesackt, die auf eine Gegenüberstellung mit mir warten mussten. Leider waren die zu lieb und locker zwei Jahre zu alt. Wir suchten weiter ab und wurden nicht fündig. In der Zwischenzeit jedoch waren schon anderen Streifen mit im Spiel. Und siehe da, in der Griechischen Allee hatte eine Zivilstreife tatsächlich einen Typ festgenagelt. Yes!!!
Der hatte schon halb gestanden bevor ich dann eintraf und wollte sich natürlich wild rausreden. Dennoch, Handschellen angelegt, durchsucht und ab in den Transporter mit ihm. Er meinte, er kenne die anderen natürlich nicht, nur die Vornamen bla bla bla. Aber es schien wirklich fast so. Auf meine Frage, dass die sich doch bestimmt aus der Schule kennen, erntete ich ein furchtbar ehrliches "Aber ich bin doch gar nich mehr in der Schule. Die haben mich doch rausgeworfen." ... Dazu fiel auch mir nix mehr ein. Es gibt Momente, da bin ich sprachlos. Was will man darauf entgegnen? In diesem Augenblick wird Dir klar, dass das
System wirklich versagt haben muss.
In der Zwischenzeit hatte eine andere Streife auch noch Nummer zwei aufgegriffen und alles sammelte sich am eigentlichen Tatort, der Haltestelle Firlstrasse. Dort konnten auch diverse Zeugen die Typen wiedererkennen und ein Dritter wurde mittlerweile von zu Hause abgeholt. Nummer zwei rückte nach anlegen der Handschellen dann noch mit einem Teil meines Bargeldes heraus und gab sogar die Infos wo sich der Rucksack befindet. Er lag in just jenem Hinterhausdurchgang tief in einer Hecke, die Sachen verstreut, das Portemonnaie zwecks Cash gelehrt und den Rest in den Mülleimer geworfen.

Ich weiß eigentlich gar nicht worüber ich ernsthaft ungläubig mehr den Kopf schütteln soll. Die Gewalt? Oder diese Dreistigkeit sich dann auch noch den Rucksack zu greifen und unter solchem Zeitdruck alles Wesentliche daraus abzugreifen? Es machte irgendwie auch den Anschein, als wäre das nicht das allererste Mal gewesen, dass da wer Scheiße baut.
Das konnten dann auch die Zivilpolizisten bestätigen, die zwei der mittlerweile dann auf drei angewachsenen gefassten Täter schon kannten. Die kommen aus Baumschulenweg und sind schon öfter aufgefallen: Eltern kümmern sich nicht, die älteren Brüder ebenso straffällig, teils
ausländische Herkunft ...
Au man. Ich behaupte von mir, dass ich ein ganz reales Bild von der Welt habe und ich versuche auch immer diesen krass negativ besetzten Klischees entgegenzuwirken, aber ... scheiße, mein Weltbild wurde mal wieder ordentlich gerade gerückt. Es gibt sie wirklich, die (man nenne es wie man will) Unterschicht, Benachteiligte, Perspektivlose ... Vor allem wenn man bedenkt, dass die Knirpse erst 13 und 14 Jahre jung sind.
Ich meine, ich habe mit 14 als das höchste der Gefühle 'ne CD geklaut und Mercedessterne abgeknippst. Von mir aus sollen die auch die Scheiben zerkratzen und die U-Bahn beschmieren. Scheiße macht jeder und das gehört auch zum Reifen womöglich gar essenziell dazu. Aber jemandem der auf dem Boden liegt in die Fresse zu treten, finde ich, ist ein anderes Level. Zumal ich das nun echt nicht erwartet hätte. Wenn ich, wie schon geschehen, in einem RegionalExpress der DB sitze und der Wagen von einem halben Dutzend besoffener Vollidioten zerlegt wird, die aber auch doppelt so breit sind wie ich, dann halte ich für den Moment lieber auch die Klappe. Soviel darwinistischer Selbsterhaltungstrieb wohnt gar mir inne. Aber in der Tram einfach nicht bespuckt werden wollen, von Knirpsen, die einen Kopf kleiner sind als ich ...?!

To make a long story short: der Vierte wurde von zu Hause abgeholt und vor Ort uns Zeugen noch gegenübergestellt. Über Nummer fünf weiß ich nichts, bin aber guter Dinge. Danach ging es zur Kripo um Aussage zu machen und Strafanzeige zu stellen. Das dauerte dank fortgeschrittener Stunde alles etwas. Andererseits hatten die Jungs dort unter anderem auch noch einen Totschlag zu bearbeiten.
Um 20.40 hatte ich einhundert Meter Luftlinie von zu Hause den Schuh im Gesicht, um 3.30 Uhr nächsten Morgen war ich dann daheim. Happy Halloween!
Erfreulich waren die Fahrgäste, die schnell reagiert haben und auch als Zeugen helfen werden. Ebenso muss ich sagen, dass wegen dieser Geschichte zeitweise vier Streifen beschäftigt waren und die ihren Job in Anbetracht der zeitkritischen Situation zwecks Flucht nach meinem Ermessen echt gut gemacht haben.

Und was is mit mir? In den Tagen danach habe ich mich dann zu Ärzten begeben und wurde geröntgt, Ergebnis: Rippenprellung (echt fieser Schmerz teilweise) aber nix gebrochen, leichte Gehirnerschütterung (geht schon wieder) und noch nicht endgültig geklärte Kieferverletzung (BicMac beißen is erstmal nich). Nun, ich hatte schon bessere Tage. Dazu kommt eine lädierte Brille und noch diverse kleine Sachen.

Ich muss sehen, wie es nun damit weitergeht. Nochmal zu Ärzten. Warten auf Post, warten auf Gerichtstermin. Warten, dass die minderjährigen Hirnspasten drei Wochen Fernsehsperre kriegen. Dann nebenher zivilrechtliche Klage wegen Sachschaden. Obwohl es bei denen nix zu holen gibt. Viel Aufwand und Zeit. Und viel Grübeln, ob man überhaupt noch mal seinen Mund aufmacht. Schon seltsam."

1 Kommentar:

Martin hat gesagt…

Oh man, viiiieeel zu lesen, obwohls spannend war. Übelst, was Ramón da wiederfahren ist, und das nur wegen ein paar Kürbiskernen. (Mich ham die Knirpse an Halloween wenigstens noch höflich gefragt, ob sie mich mit Fensterschnee besprühen dürften: Nein!)
Ich finds gut, dass Ramón die Courage hatte, sich zu beschweren - auch wenn das üblicherweise eher Gewalt auslösen wird. Keine Ahnung, ob man da schon präventiv selbst mit Kernen spucken oder mit eher Prügel drohen sollte. Dass unser antiautoritäres Vorgehen da nur als die Schwäche ankommt, die sie von ihren Lehrern kennen, ist klar.

Wo mir allerdings die Kinnlade runterfiel, war der Satz: "In diesem Augenblick wird Dir klar, dass das System wirklich versagt haben muss." Das System? Die Politik? Das Rechtswesen? Diese von den zwölf Weltweisen in Agartha insgeheim gesteuerte Gesellschaft? Gott? Der gesunde Menschenverstand? Jedenfalls etwas, an dessen Unabhängigkeit und Funktionieren Ramón bis dahin geglaubt hat.
Dann steht natürlich die Frage an, inwiefern er selbst was für dieses System, an das er glaubt, tut, oder ob das eben so eine fremdbestimmte Sache ist, an der ich teilnehme.

Ich kenne Ramón nicht, also war das rein hypothetisch. Die Mail ist allerdings zum Ende zunehmend von Entsetzen und Überraschtheit geprägt. Gewalt, Diebstahl, Schule abgebrochen --- man, dass es sowas gibt. Wo soll die Welt noch hinführen? Alle Werte futsch bei denen.

Das find ich etwas zu überrascht. Das gefährliche ist, sich zu der einen Sicht der Dinge, die man gelernt hat, sich selbst nicht mehr zu befragen. Ramóns Werte und die Werte dieser Gruppe von Jugendlichen passen offenbar nicht. In deren Augen ist Ramón sicher ein total verpeilter, weil er noch daran glaubt, dass ihn ein System auffängt. Was nützt ihm seine Schulausbildung, wenn man ihn anspucken kann - werden die meinen, Das Gesetz der Strasse kennt er nicht, aber das ist es, womit die sich abmühen müssen.

Ich plädiere hier nicht für mehr Toleranz gegenüber anderen Wertsystemen. Mich wundert Ramóns Entsetzen. Sein System scheint wunderbar funktioniert zu haben: die Passanten haben ihm geholfen, die Polizei schickt gleich ihr ganzes Revier in den Einsatz.
In Wells' Time Machine sind die Eloi auch immer ziemlich perplex, wenn wieder mal ein Trupp Morlocks kommt und alles verwüstet. Kann ja gar nicht sein, sowas gibts doch gar nicht. Ts ts. Dass die so leben können, da unter der Erde!

(Achtung, ich polarisiere!)