29.11.06

Glasperlenspiel

Um die angedachte Reise zu den dräuenden Feiertagen kostengünstig zu halten, bin ich mit dem Vorhaben zum Bahnhof gegangen, schon jetzt ein Zugticket für den entsprechenen Zeitraum zu erwerben. Ich kaufe Zugfahrkarten immer am Schalter, weil ich zu doof bin, mit dem Online-Bestellsystem der Bahn umzugehen.

Der von mir diesmal angesteuerte Bahnhof war der noch halbwegs neue Berliner Hauptbahnhof. Dort steht im südlichen Eingangsbereich ein riesiger Kegel aus Tannenreisig, der wohl einen Nadelbaum darstellen soll. In das Grün ist lauter geschliffenes Glas eingehängt. Ästhetisch betrachtet ist das ganze weder so selbstbewusst kitischig wie Weihnachtsbäume aus amerikanischen Jahresendfamilienfilmen noch anderweitig in gängigen Geschmacksvorstellungen zu verorten. Bei Tageslicht muss mensch nebenbei sehr nah an das hohe Ding herantreten, bis sich aus den die Netzhaut angreifenden Farbblitzern ernsthaft Strasssteine entwickeln.
Diese ganze Verirrung ist eine Werbeaktion des Glasschleifers Svarovski. Das sind die mit dem kleinen Kristallschwan, dessen überlanger Hals mich immer an Magersucht denken lässt. Bisher war mir verborgen geblieben, wer sich diesen Quarzsandnippes kauft, denn das einzige mir bekannte Svarovski-Geschäft am Potsdamer Platz hatte eigentlich nie Kunden, wenn ich da während der Verkaufszeit am Schaufenster vorbeikam.

Jetzt weiß ich's. Der, nennen wir ihn doch mal so, Weihnachtsbaum mit Pseudokristall lockt einen speziellen Schlag Menschen zwischen 65 und 70 an, wie sonst Scheiße Fliegen. Clevererweise befindet sich der "Baum" gleich neben der Bahnhofsfiliale der Svarovskis, so daß die alten Leute nicht nur staunen, sondern auch kaufen konnten.
Aufallend war, dass die Freunde des gläsernen Staubfängers alle gleich aussahen.
Alle hatten sie ihre Anoraks und Gesundheitsschuhe bei den obskuren niederbayerischen Firmen bestellt, die ausschließlich in den TV-Beilagen der Tageszeitungen werben. Ich sah also jene, bei denen das Geschlecht eines Individuums vorrangig daran zu erkennen ist, ob der Anorak hellbeige oder jägergrün ist, ob die dünnen Haare per gewagtem Scheitel oder zu heiß getrockneter Dauerwelle ihren eigenen Verlust wettmachen sollen.
Ich dachte, dieser Look gehörte zu den heute 85 jährigen. Ich meine, Menschen, die heute 65 bis 70 Jahre alt sind, waren zwischen 1965/1970 herum so alt wie ich heute. Damals war sexuelle Revolution, Studentenrevolte und Drogentesten en vogue. Die Beatles waren längst zum Ausverkauf freigegeben und Jopi Heesters auch schon ein alter Mann... Die Svarovski-Kunden sind so alt wie der hier schon erwähnte Al Pacino, wie Ursula Andress, Shirley Bassey oder Frank Zappa.
Klar, es gibt in dem Alter jede Menge Menschen, die nicht aussehen, als würden sie vor allem Butterfahrten machen und Heizdecken horten. Aber dass diese Spezies nicht ausstirbt...

Aber ich muss einsehen, auch Carolin Reiber, Karl Moik und Tony Marshall gehören zu dieser Generation...

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Börn, erneut hast Du es geschafft, ein Alltagsphänomen wirklich treffend zu beschreiben und mich mit Deinem Reflektionsvermögen zu beeindrucken. Aber so böse Sachen wie "wie Sch. Fliegen" (anziehen), das solltest Du nicht schreiben, das ist nicht schön. Dabei scheinst Du doch so ein netter Mann zu sein ... Deine Johanna

Anonym hat gesagt…

*grusel*

 miss sophie hat gesagt…

da schließ ich mich doch sofort der Reaktion des Herrn Stein an...

Der Mensch als soziales Wesen hin oder her, es gibt so Momente der Gruppendynamik, die verwirrend bis Angst machend sind.
Da ist dann Zynismus vielleicht auch angebracht... :-)

Anonym hat gesagt…

Sag's mit Rainald Grebe:
"Labskaus ist ein Fischgericht, der Koch kennt den Inhalt, der Verbraucher nicht. Wahre Schönheit kommt von innen - kann man jederzeit mit beginnen."
(Rainald Grebe: "Dörte")
Ich nenne es übrigens "das Phänomen Rentner-Beige".