Großspurig habe ich vor einigen Tagen versprochen, die Kurzgeschichte, die mir am besten unter den zwecks Gewinn von Freikarten eingesandten gefällt, hier noch einmal interpretativ ins Rampenlicht zu rücken. Nun denn:
Jakob hatte mich mit seinem Märchen überzeugt. Weil ich Märchen mag. Und weil er ein gutes Märchen geschrieben hat:
Es war einmal ein Graubrot, das sich auf die Suche nach einem Schatz machte. Tage und Nächte durchwanderte das Graubrot die Welt, spielte Karten mit irischen Ureinwohnern und feierte eine Party mit subversiv anmutenden Gesellen. Was soll ich sagen, die Party war so schön, dass das Graubrot ob der feucht-fröhlichen Sause mit Alkohol benetzt wurde und anfing zu schimmeln. Einen Wertkauf des Graubrotes konnte das Graubrot nun vergessen, zumal ein Bild des Graubrotes die Wahrheit in aller Herren Länder verkündete.
Das Graubrot war so traurig, dass es sich wieder auf seine Schatzsuche besann. Jahrelang durchwanderte es Täler und Wiesen, Blogs und Arbeitsämter, und als es den Schatz gefunden hatte, war es doch nur eine Weisheit: "Viele Bäume, viel Schatten!" Und wenn es nicht verschimmelt ist, lebt es noch heute.
Warum ist das ein gutes Märchen? Weil es die klassischen Elemente des Märchens nutzt, um mit einer altbekannten Struktur das altbekannte Ziel eines Märchens zu erfüllen. Das Ziel ist die Moral von der Geschicht.
Aber zunächst zur Struktur: "Es war einmal" ist der klassische Märchengebinn, es rückt die Erzählung in eine unbestimmte aber vergangene Zeit. Das hat zwei ideologische Vorteile. Über die Unbestimmtheit kann sich das Märchen jeglicher historischen Wahrheit entziehen, es wird allgemein und damit exemplarisch. Das ist wichtig, um übergeordnete längerfristig gültige moralische Schlüsse abliefern zu können. Die Vergangenheitsstruktur spielt mit dem rhetorischen Allgemeinplatz, das früher alles besser war ("laudatio temporis acti" sagen die Experten dazu) und macht uns so glauben, dass das, was jetzt erzählt wird, irgendwie besser ist, als das, was wir erleben.
Allerdings ist im Märchen nie die Welt besser als heute, überall lauern Gefahren, Hexen, Räuber, Wölfe. Wenn die Welt nicht besser ist, dann ist es der Held mit dem wir uns als Rezipienten des Märchens identifizieren können. Und wer will sich nicht mal mit dem Graubrot identifizieren? Naja, neben dem Held gilt auch die Wertvorstellung früher als besser. Ist natürlich Quatsch für die reale Vergangenheit, die wir fassen können, denkt nur mal an die Zusammenhänge von bürgerlicher Spießigkeit und der deutschen Geschichte der vergangenen 150 Jahre. Aber deshalb ist die märchenhafte Vergangenheit auch keine konkrete, sondern eine mythische, verklärte.
Also, jetzt haben wir: gefährliche Welt, guter Held, gute Werte. Was braucht es noch fürs Märchen? Meist ein Motiv, dass den Held in Bewegung innerhalb der Märchenwelt setzt. Die Schatzsuche ist dafür ideal. Der Schatz ist Metapher für Reichtum, Glück und Erfüllung. Für die Suche selbst wusste schon der alte Goethe, "wer immer strebend sich bemüht", kann nur ein Guter sein. Und die Guten finden im Märchen oft die Hilfe magischer Kräfte. Schätze, die man suchen muss, wiederum, sind oft nur durch Magie zu finden.
Genau das geschieht aber in Jakobs Märchen nicht. Warum nicht? Weil sich der Held in eine Krise manövriert. Die schöne Party mit den "subversiv anmutenden Gesellen" bricht den Helden, was im Motiv des schimmelnden Graubrotes wunderbar bebildert wird. Dieser Bruch in der Heldenzeichnung macht ihn zwar nicht besser aber menschlicher. Wir Rezipienten mit all unseren eigenen Brüchen sind nun noch besser in der Lage, uns in dem ja grundsätzlich immer noch positiven Graubrot zu erkennen.
Nach der Krise gibt es in jedem Märchen aber eine Lösung. Das ist das schöne am Märchen, das ist sein didaktischer Kniff. Am Ende bleibt etwas Erbauendes, zumindest Tröstliches. Sonst wäre es eine Tragödie. Ein Märchen klassischen Musters wird also unsere Hoffnung auf guten Ausgang, den ja schon der Märchenmarker am Beginn der Erzählung "Es war einmal" nahelegt, nicht enttäuschen.
So auch bei Jakobs Graubrot-Märchen. Der Held meistert die Krise, indem er bei allem Verlust und aller Traurigkeit sich doch auf sein ursprüngliches Ziel besinnt: Die Schatzsuche. Und er findet seinen Schatz. Keine Goldtruhe, kein Reichtum, aber etwas, was viel wertvoller ist. Er findet die Moral von der Gesicht. Was auch immer "Viele Bäume, viel Schatten" dem Graubrot und uns sagen soll.
Darüber dürft ihr jetzt nachdenken, liebe Kinder!